Der „Sexsomnia-Fall“ war Gegenstand bundesweiter Berichterstattung, wir verweisen nur beispielhaft auf Artikel aus der FAZ, dem Spiegel, dem Stern und der Süddeutschen (die meisten allerdings mit Paywall).

Der Fall ist von Anfang bis zu seinem (vorläufigen) Ende so außergewöhnlich, dass wir hier etwas ausführlicher berichten wollen. Unser Kollege Dr. Molkentin ist derjenige, der mit seinem Klageerzwingungsantrag die Aufklärung dieser Tat erst möglich gemacht hat. Der Kollege ist leidenschaftlicher Strafverteidiger. Warum er diesen Fall übernommen hat, erklärt er in dem nachfolgenden persönlichen Bericht von dem Verfahren:

Am vergangenen Mittwoch, dem 14. Februar 2024, hat die Jugendkammer des Landgerichts Lübeck ein spektakuläres Urteil verkündet. Ein ehemaliger Staatsanwalt hatte demnach seinen achtjährigen Sohn vergewaltigt. Er hatte den Vorfall, an den er sich angeblich nicht erinnern konnte, am Folgetag selbst bei seinem Dienstherrn, der Staatsanwaltschaft Lübeck, angezeigt. Schon im Ermittlungsverfahren hatte er dann über eine Ex-Partnerin die Erklärung lanciert, er habe diese Tat als Schlafwandler und damit im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen. Die Zeugin behauptete, so etwas sei auch in der früheren Beziehung regelmäßig vorgekommen. Dies passte schon zur überzeugenden Schilderung des Jungen nicht. Auch das Gericht hat dieser Zeugin nicht geglaubt. Es hat sich dabei auch unbeeindruckt von deren beruflicher Stellung als Richterin und Professorin gezeigt. Diese hatten Verteidigung und Staatsanwaltschaft während des Verfahrens stets als besonderes Glaubwürdigkeitsmerkmal betont (eine Einschätzung, die in rechtlicher Hinsicht nicht zu halten ist und vom Gericht auch deutlich zurückgewiesen wurde; s.u.). In der Sache gab es zu viele Widersprüche in den Bekundungen der Zeugin selbst sowie zu weiteren bei der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnissen. Mit der Verurteilung fand ein vom Beginn bis zum Schluss des Verfahrens bemerkenswertes Verhalten der Staatsanwaltschaft Kiel seine vorerst abschließende Antwort.

Zusammenfassung der Fakten aufgrund der Feststellungen des (nicht rechtskräftigen) Urteils des Landgerichts Lübeck:

  • Die Diagnose Sexomnia als „krankhafte seelische Störung“ i.S.v. §§ 20, 21 StGB ist fachlich anerkannt, sie war aber vorliegend mit Hilfe fragwürdiger Zeugenaussagen, denen auch das Gericht nicht gefolgt ist, nur vorgeschoben.
  • Die Staatsanwaltschaft Kiel, die eigentlich anstelle der Staatsanwaltschaft Lübeck für unvoreingenommene Ermittlungen sorgen sollte, hat das Verfahren dreimal (!) eingestellt, ohne dass es dafür – so auch jetzt das Landgericht Lübeck – eine sachliche Berechtigung gab.
  • Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hat die Staatsanwaltschaft Kiel auf den Klageerzwingungsantrag angewiesen, Anklage gegen den beschuldigten Ex-Staatsanwalt zu erheben; ohne diesen Antrag wäre es gar nicht erst zu einer Hauptverhandlung gekommen.
  • Auch im Prozess hat die Staatsanwaltschaft ausschließlich die Verteidigung unterstützt und am Ende gemeinsam mit dieser einen Freispruch beantragt. Das Gericht ist jedoch der Nebenklage gefolgt und hat den Angeklagten zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
  • Mit dem vergleichsweise milden Strafmaß von eineinhalb Jahren Freiheitsentzug wollte das Gericht offenbar der bei dem Angeklagten angenommenen starken Drucksituation Rechnung tragen, vor deren Hintergrund es dann zu der Missbrauchstat gekommen war.
  • In einem Fernsehinterview unmittelbar nach der Urteilsverkündung hat sich dann der zuständige Oberstaatsanwalt von der Verurteilung vollkommen überrascht gezeigt. Auch durch das wohlbegründete und zugleich maßvolle Urteil hat er sich also nicht von seinem Kurs abbringen lassen.

 

RA Dr. Molkentin

Rechtsanwalt Dr. Wolf Molkentin (Foto: Pepe Lange)

Das Geschehen im Einzelnen (hinsichtlich der Bewertung der Beweisaufnahme liegen auch hier die nicht rechtskräftigen Feststellungen des Landgerichts Lübeck zugrunde):

I. Ermittlungsverfahren

An dem außergewöhnlichen Verfahren habe ich mich ausnahmsweise einmal auf Seiten der Nebenklage beteiligt. An dieser Stelle in der gebotenen Kürze hierzu nur zwei Sätze: Strafverteidigung ist regelmäßig der Kampf strukturell Schwächerer gegen den (hinsichtlich der Ausstattung und Eingriffsrechte) stärkeren staatlichen Strafanspruch. Im vorliegenden Fall war die Ausgangsposition durch die Sachbehandlung der Staatsanwaltschaft Kiel einmal umgekehrt, so dass ich mich nach Kontaktaufnahme durch die Kollegin Alpay-Esch zur Einmischung entschlossen habe.

Aber nun zum eigentlichen Geschehen:

Seit der Tat sind fast fünf Jahre vergangen, dreimal wurden die aufgrund einer Selbstanzeige eingeleiteten Ermittlungen eingestellt. Hiergegen hatte sich zunächst die sehr geschätzte Lübecker Kollegin mit drei Einstellungsbeschwerden für das betroffene Kind zur Wehr gesetzt. Zweimal wurden daraufhin die Ermittlungen zunächst fortgeführt, dann aber doch wieder eingestellt. Nach der Bestätigung der dritten Einstellung durch die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Schleswig-Holstein blieb nur noch ein Klageerzwingungsverfahrens beim Oberlandesgericht, das dann in meinen Händen lag.

Dieser „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ (§ 172 Abs. 2 Satz 1 StPO) erfolgt in einem stark formalisierten Verfahren, am ehesten vergleichbar mit der Revisionsbegründung durch eine Verfahrensrüge. Beim Klageerzwingungsantrag muss allerdings nicht nur ein begrenzter Sachverhalt, sondern naturgemäß die gesamte Akte in ihren wesentlichen Zügen dargestellt werden. Dies muss dann auch noch in eigenen Worten geschehen (Kopien können hier also die Darstellung unter keinen Umständen ersetzen, sondern lediglich zusätzlich zur Veranschaulichung oder Verdeutlichung mit aufgenommen werden). Zudem kann nun nicht mehr, wie zuvor in den Einstellungsbeschwerden, auf weitere Ermittlungen gedrängt werden; es sind vielmehr allein die bereits vorhandenen Ermittlungsergebnisse im Sinne einer überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit auszuwerten.

Inhaltlich waren bei bereits der Begründung dieses Antrags, die binnen Monatsfrist erfolgen muss, einige Weichenstellungen vorzunehmen, die vor allem auch wegen der existentiellen Bedeutung der Sache für die Familie nicht leichtgefallen sind. Im Ergebnis habe ich mich ganz auf die sich aus meiner Sicht aufdrängende Alternative schuldhafter Tatbegehung konzentriert. Der zunächst von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter hatte sich demgegenüber auf das Vorliegen von „Sexsomnia“ (also einer im Schlaf und damit schuldlos vorgenommenen sexuellen Handlung) bei Tatbegehung festgelegt, womit dann auch die Alternative einer Unterbringung gem. § 63 StGB in Betracht zu ziehen gewesen wäre.

Die Einschätzung dieses Sachverständigen überzeugte jedoch schon deshalb nicht, weil die Ex-Partnerin  gänzlich andere Vorkommnisse berichtet hatte, nämlich einvernehmliches Sexualverhalten ganz wie im Wachzustand und nicht, wie hier geschehen, Missbrauch mit Gewaltanwendung. In dem Antrag konnte zudem herausgearbeitet werden, dass die mögliche Diagnose „Sexsomnia“ ihre Grundlage vollständig verlieren würde, wenn sich die von vorne herein fragwürdigen Bekundungen der Ex-Partnerin in der Hauptverhandlung tatsächlich als unzutreffend herausstellen sollten.

Es lag zudem  auch noch ein weiteres, erst aufgrund der zweiten Einstellungsbeschwerde von der Staatsanwaltschaft angefordertes Gutachten vor. In diesem wurde Sexsomnia zwar für möglich gehalten, aber quasi differentialdiagnostisch auch nach alternativen Erklärungen für das weitgehend unstreitige, aber eben auch unbegreifliche Geschehen gefragt. Dem neuen Sachverständigen legte sich aus dem Akteninhalt eine alternative, die Schuldfähigkeit gerade nicht aufhebende, Erklärung für den  brutalen Übergriff des wohlsituierten Familienvaters auf sein eigenes Kind nahe. Da auch pädophile Neigungen nicht ernsthaft im Raum standen, bedurfte es dieser weitergehenden psychologischen Erklärung, die der hervorragend ausgewiesene Wissenschaftler auch geliefert hat. Sein Erklärungsmodell, auf das sich die Antragsbegründung (wie am Ende auch das Urteil) maßgeblich gestützt hatte, wird noch näher unter III. .erläutert.

II. Erzwungene Anklage und Hauptverhandlung

Der erste Strafsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts ist dieser Linie vollauf gefolgt und hat am 24. Mai 2023 mit zwei Beschlüssen unter ausführlicher Darlegung der Beweislage antragsgemäß die Staatsanwaltschaft Kiel angewiesen, in der Sache Anklage zu erheben. Dies geschah dann auch (erkennbar widerwillig) noch durch den auch bislang zuständigen Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft Kiel (dieser hatte zuvor sogar das objektive Tatgeschehen selbst, wie von dem Kind überzeugend geschildert, in Frage gestellt). Für die ab dem 29. Januar 2024 durchgeführte Hauptverhandlung hat dann der Sprecher der Staatsanwaltschaft Kiel, Oberstaatsanwalt Axel Bieler, den Sitzungsdienst übernommen. Hoffnungen, dass sich damit auch ein Wechsel in der Herangehensweise an den Fall auf Seiten der Behörde verbinden würde, erfüllten sich nicht, ganz im Gegenteil: In der Hauptverhandlung wurde die notgedrungen erhobene Anklage in gar keiner Weise vertreten, dies blieb vielmehr allein der Nebenklage überlassen, die ich gemeinsam mit meiner Lübecker Kollegin vertreten habe.

Wir haben uns dann zunächst darauf konzentriert, den bereits aus der Ermittlungsakte bekannten Widersprüchen in der Befragung der Zeug:innen nachzugehen. Bekannt war bereits, dass der Angeklagte schon 2 1/2 Wochen nach der Tatbegehung selbst Informationen zu dem angeblichen Krankheitsbild im Internet herausgesucht hatte. Dann gab es dazu schriftliche Äußerungen seiner Therapeutin und schließlich eine „Schriftliche Zeugenaussage“, die von der Ex-Partnerin „der Einfachheit  halber“ direkt an den ersten Gutachter geschickt worden waren. In dieser (von der Vorsitzenden in der Hauptverhandlung verlesenen) Darstellung wurde von einem Treffen bei einem befreundeten Rechtsanwalt in Hannover Monate nach der Tat berichtet, bei dem der Angeklagte erstmals von deren angeblichen Sexsomnia-Erlebnissen aus der früheren Beziehung erfahren haben sollte. Er habe auf diese Offenbarung vollkommen entgeistert und „wie vor den Kopf geschlagen“ reagiert. Schwer nachvollziehbar, denn, wie gesagt: bereits 2 1/2 Wochen nach der Tat hatte der Angeklagte im Internet zum Stichwort „Sexsomnia“ recherchiert.

Diese Widersprüchlichkeit vertiefte sich durch die Bekundungen der in der Hauptverhandlung vernommenen Therapeutin des Angeklagten. Diese gab nämlich an, dass der Angeklagte sie bereits einen Tag nach seinen Internetfunden auf das – ihr bis dahin unbekannte – Krankheitsbild angesprochen habe. Sie habe ihm daraufhin nahegelegt, sich doch schon einmal mit der Frage nach etwaigen passenden Vorfällen an frühere Partnerinnen zu wenden. So machte er sich also offenbar selbst auf die Suche. Zu den Ergebnissen soll er dann ihr bzw. den Gutachtern gegenüber angegeben haben, derartige Vorfälle habe es mit zwei oder drei vormaligen Partnerinnen gegeben. Weiter hatte er demnach sogar behauptet, auch in der langjährigen Beziehung mit der Mutter des missbrauchten Kindes habe es solche Ereignisse gegeben. Dem ist diese allerdings von Anfang an und auch in der Hauptverhandlung klar und überzeugend entgegengetreten. Weitere angeblich betroffene Ex-Partnerinnen konnten nicht ermittelt werden, weil der beschuldigte Ex-Staatsanwalt sich weigerte, entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen.

Hinzu kamen die Antworten der Ex-Partnerin (eine frühere Staatsanwältin und jetzige OLG-Richterin mit Professorentitel) und des Rechtsanwalts, der das Treffen nach eigenen Angaben vermittelt hatte, in der Hauptverhandlung: Obwohl der Angeklagte die Tat sofort selbst angezeigt hatte und in diesem Rahmen wie auch gegenüber allen sonstigen Beteiligten (Ehefrau, Kinderärztin, Gutachter) stets betont hatte, dass er seinem Sohn Glauben schenke und sich eben nur nicht erinnern könne, kam nun von diesen Zeugen eine neue Version: Der Angeklagte soll dem Rechtsanwalt gegenüber vor dem Treffen eine massive Verärgerung zum Ausdruck gebracht haben: Er wolle mit dem Sohn, der „solche Geschichten“ über ihn erzähle, nichts mehr zu tun haben und kein Wort mehr reden. Erst mit der für ihn angeblich vollkommen neuen Erklärung „Sexsomnia“ habe er dann endlich zu seiner Tat stehen können, die er bis zu dem Treffen für sich vollkommen ausgeschlossen habe.

Zugleich konnte von der Nebenklage mit dem vom Gericht bestellten Sachverständigen herausgearbeitet werden, dass ohne die „wie aus einem Lehrbuch“ übernommenen Angaben der Zeugin, die „klassischer nicht sein könnten“, das Vorliegen von Sexsomnia bei Tatbegehung eine nur noch theoretische Möglichkeit ohne greifbare Anhaltspunkte darstellen würde. Bloß theoretisch Mögliches bleibt aber nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung außer Betracht, insoweit waren vernünftige Zweifel an der Schuldfähigkeit also nicht mehr zu begründen. Von alledem hat sich die Staatsanwaltschaft jedoch in keiner Weise beeindrucken lassen und gemeinsam mit der Verteidigung Freispruch beantragt.

III. Urteil und Nachbemerkungen

Dem ist die Kammer in ihrem am 14. Februar 2024, dem darauffolgenden Hauptverhandlungstag, verkündeten Urteil indessen nicht gefolgt. Auch ein letzter Zeuge, der auf einen Beweisantrag der Verteidigung hin erst am Vortag vernommen worden war, hatte hieran nichts zu ändern vermocht. Er wollte vor mehr als 20 Jahren „am Küchentisch“ der gemeinsam bewohnten WG von der Ex-Partnerin des Angeklagten eine „Anekdote“ über „Sex im Schlaf“ mit diesem gehört haben. Diese in der Urteilsbegründung zu Recht als „lebensfremd“ bezeichneten Angaben seien nicht geeignet, über die vollständige Unglaubhaftigkeit der entlastenden Zeugenaussage der Ex-Partnerin hinwegzuhelfen. Die von ihr berichteten sexsomnischen Vorfälle habe es „nicht gegeben“.

Diese klare Feststellung hat die Kammer mit dem überzeugenden Erklärungsmodell des von ihr beauftragten Sachverständigen für eine schuldhafte Tatbegehung verbunden, das dieser in der Hauptverhandlung noch näher erläutert hatte. Demnach ist von einer „dysfunktionalen Copingstrategie“ vor dem Hintergrund der vom Angeklagten selbst im Ermittlungsverfahren geschilderten persönlichen und vor allem beruflichen Belastungssituation auszugehen. Hieraus ergab sich eine tief empfundene Ohnmacht, die sich dann durch eine eigentlich sinnlose (deshalb „dysfunktionale“) Tat für einen Moment in eine triumphale Machtausübung verwandeln ließ. Ob in der Folge, was nach den Aussagen des Sachverständigen möglich wäre, eine vollständige Verdrängung stattgefunden hat, konnte das Gericht nicht ausschließen. Die Vorsitzende hat allerdings deutlich gemacht, dass die Kammer das Vorliegen einer bloßen Schutzbehauptung für deutlich naheliegender hält.

Das („selbstverständlich nicht dem Angeklagten zuzurechnende“) Prozessverhalten der gegenüber dem Gericht und der Nebenklage durchgängig mit einiger Aggressivität auftretenden Verteidiger sowie das bis zum Ende der Hauptverhandlung andauernde Versagen der Staatsanwaltschaft Kiel hat die Vorsitzende mit deutlichen Worten angeprangert. Nach dem unzureichenden ersten Gutachten hätte demnach sogleich das zweite Gutachten des höchst kompetenten Fachwissenschaftlers eingeholt und in der Folge unverzüglich angeklagt werden müssen. Für die dreimalige Einstellung habe es überhaupt keinen Grund gegeben. Auch dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung ausschließlich die Verteidigung unterstützt und am Ende einen Freispruch beantragt habe, sei angesichts der Sachlage befremdlich.

Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, dass sich auch die Staatsanwaltschaft nicht einmal im Ansatz mit der Aussage der maßgeblichen Entlastungszeugin auseinandergesetzt und sich anstelle dessen mit dem Hinweis begnügt habe, es handele sich um „eine Top-Juristin“, der damit eine Lüge gar nicht zuzutrauen sei. Die Vorsitzende hat daran die sarkastische Frage angeknüpft, ab welcher beruflichen Stellung dann denn wohl eine Würdigung einer Zeugenaussage nicht mehr erfolgen müsse: vielleicht ja bei einer Richterin am Amtsgericht durchaus und vielleicht auch bei einer Richterin am Landgericht noch ein wenig, während sie bei einer Richterin am Oberlandesgericht dann schlechthin entbehrlich sein solle? Es folgte eine überzeugende und gründliche Beweiswürdigung, die keine Fragen offenließ und sämtliche zur Etablierung der Sexsomnia-Theorie dienenden Zeugenaussagen verwarf. Dass Oberstaatsanwalt Bieler sich in seiner anschließenden Medienäußerung völlig überrascht davon zeigte, „dass Zeugen nicht geglaubt wurde“, kann bestenfalls als misslungener Versuch der Ehrenrettung gewertet werden.

Zur Einordnung noch das Folgende: Die Annahme eines minder schweren Falls des schweren Kindesmissbrauchs nach altem Recht (§ 176a Abs. 4, 2. Alt. a.F. StGB wegen § 2 Abs. 3 StGB) sowie der Ausschluss der Indizwirkung des Regelbeispiels Vergewaltigung (§ 177 Abs. 6 StGB) bahnten den Weg zu einer Bewährungsstrafe. Dass in verschiedenen Medien deshalb die relative Milde des Strafausspruchs in das Zentrum gestellt und die Vorsitzende dafür scharf angegriffen wurde, tut dieser Unrecht und geht an der Bedeutung des Urteils vollkommen vorbei. Die Ausführungen der Vorsitzenden zu einem „Ventil“, dass der Angeklagte in seiner Situation „gebraucht habe“, dienten keineswegs der Entlastung des Täters, sondern waren unabdingbare Voraussetzung seiner Verurteilung (im Sinne des Erklärungsmodells einer, wie es in der Urteilsbegründung nun hieß, „dysfunktionalen Bewältigungsstrategie“). Es ist nachvollziehbar, dass sich mit diesen Feststellungen dann auch strafmildernde Aspekte verbinden. Die Nebenklage hat einen bestimmten Antrag zur Strafhöhe nicht gestellt; wir freuen uns mit der Familie, dass die Hauptverhandlung die erhoffte Aufklärung gebracht und das Urteil die Ergebnisse erst einmal unbestreitbar festgehalten hat.

Bei alledem ist auch nicht aus dem Blick geraten, was wir in unserer Tätigkeit als Strafverteidiger mit vollem Recht betonen: dass nämlich eine Verurteilung nur bei einer jeden vernünftigen Zweifel überwindenden Überzeugungsbildung erfolgen darf (und dementsprechend auch eine Anklageerhebung nur erfolgen kann, wenn ein solches Ergebnis überwiegend wahrscheinlich ist). Solche Zweifel bedürfen aber stets einer konkreten Grundlage. So kann selbstverständlich nicht jede Tatbegehung bei Nacht mit der Möglichkeit, es könne sich ja um Schlafwandeln handeln, von der Strafverfolgung ausgenommen sein. Zudem fordert der Zweifelssatz auch nicht, wie von der Verteidigung behauptet, eine Gewissheit in der Einordnung jeder einzelnen maßgeblichen Zeugenaussage für sich genommen. Dies ergibt sich schon daraus, dass gegen den Wahrheitsgehalt einer Aussage maßgeblich ihre Unvereinbarkeit mit anderen Beweisergebnissen sprechen kann. So ist es letztlich das sich am Ende der Beweisaufnahme als „Inbegriff der Verhandlung“ (§ 261 StPO) ergebende Gesamtbild, das eine eindeutige Überzeugung vermitteln muss – oder eben nicht. In dem nun vorläufig zu Ende gegangenen Verfahren ist ersteres der Fall gewesen, das Urteil der Kammer ist nach der Beweisaufnahme folgerichtig.