Bislang gab es zu dem extrem praxisrelevanten Problem eines Anwesenheitsrechts der Verteidigung im Rahmen von § 110 StPO, soweit ersichtlich, nur sehr wenige gerichtliche Entscheidungen. Dabei geht es um die Sicherstellung und Mitnahme teils erheblicher Papier- und/oder Datenmengen durch die Ermittler zur Klärung der Frage, ob diese überhaupt für das Verfahren erheblich (und vom Durchsuchungsbeschluss umfasst!) sind. Diese Bewertung geschieht dann aus Gründen der Vereinfachung der Abläufe nicht mehr in den durchsuchten Räumlichkeiten (damit angeblich grundrechtsschonender), sondern, für die Strafverfolger bequemer, in deren Amtsstuben.

Angesichts des Umstandes, dass insbesondere in wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren bei Durchsuchungen durch die Strafverfolgungsbehörden nicht selten die gesamte IT sichergestellt und in der Folge ohne wirksame Kontrolle der Verteidigung „durchgesehen“ wird, erscheint diese Routine verwunderlich. Dass der Betroffene sowie sein Rechtsbeistand während der Durchsuchung ein Anwesenheitsrecht haben, folgt aus § 106 StPO sowie dem Hausrecht des Betroffenen und wird regelmäßig auch so praktiziert. Nicht im Gesetz geregelt ist dagegen, ob dem Rechtsbeistand des Betroffenen auch bei der sich anschließenden Durchsicht der sichergestellten Unterlagen – regelmäßig in Form von Dateien auf den IT-Systemen des Betroffenen – die Anwesenheit (dann in aller Regel in den Räumlichkeiten der Strafverfolgungsbehörden) zu gestatten ist.

Die Erforderlichkeit der Anwesenheit folgt für den Betroffenen daraus, dass nur so wirksam das aus § 108 StPO folgende Verbot der gezielten Suche nach Zufallsfunden durchgesetzt werden kann. Eine Durchsuchung beim Beschuldigten ist gem. § 102 StPO nur bei einem hinreichend konkreten Tatverdacht und im Rahmen einer sog. Auffinde-Vermutung zulässig. Im Durchsuchungsbeschluss ist dann – mal mehr, mal weniger konkret – aufgeführt, das Auffinden welcher Beweismittel in diesem gesetzlich vorgegebenen Rahmen mit der Durchsuchung bezweckt wird. Nur nach diesen Beweismitteln dürfen die Strafverfolger gezielt suchen. Dies zu überwachen, kann angesichts des Umfangs und der Sensibilität von Datenbeständen eines Unternehmens ein erstes wichtiges Verteidigungsziel sein.

Unser Kollege Herr Dr. Buchholz konnte ein solches Anwesenheitsrecht nun vor dem Amts- und Landgericht Kiel durchsetzen. In einem gegen einen Geschäftsführer eines Verbandes geführten Strafverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung wurden die Geschäftsräume durchsucht und große Teile der IT beschlagnahmt. Bei der anschließenden Durchsicht der gespiegelten Dateien wurde unserem Kollegen zunächst die Anwesenheit gestattet. Es wurden erste Termine zur Durchsicht vereinbart und von allen Seiten wahrgenommen. In der Folge versagte die Staatsanwaltschaft Kiel Herrn Dr. Buchholz jedoch die weitere Teilnahme an der Durchsicht aus verfahrensökonomischen Gründen: Die Durchsicht solle nunmehr beschleunigt durchgeführt werden.

Daraufhin beantragte unser Kollege beim Amtsgericht Kiel die Anordnung, dass ihm auch weiterhin die Anwesenheit bei der Durchsicht in den Räumen der Steuerfahndung zu gestatten sei. Zur Begründung wurde zunächst herausgestellt, dass der Umstand der nicht vorhandenen ausdrücklichen Regelung des Anwesenheitsrechts bei der Durchsicht ein gesetzgeberisches Versehen darstellt. Auch die Streichung einer vormals geregelten Hinweispflicht der Strafverfolgungsbehörden auf die Möglichkeit zur Anwesenheit in § 110 Abs. 3 StPO a.F. im Jahr 2004 bezweckte ausweislich der Gesetzesbegründung nicht die Abschaffung des Anwesenheitsrechts selbst (BT-Drs. 15/3482, S. 2). Ein Anwesenheitsrecht könne daher im Wege richterlicher Rechtsfortbildung begründet werden.

Bei der Durchsicht nach § 110 StPO handele es sich um einen Teil bzw. die Fortsetzung der Durchsuchung. Dafür, dass für die Durchsicht nicht der für die Durchsuchung geltende § 106 StPO zum Tragen kommen solle, gebe es keine Anhaltspunkte. Im vorliegenden Fall konnten zudem Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte ein Anwesenheitsrecht weiter begründen. Die Größe des beschlagnahmten Datenbestandes und seine Sensibilität sprachen eindeutig dafür, dass die Auswertung durch Herrn Dr. Buchholz begleitet werden musste. Der betroffene Verband steht zudem in wirtschaftlicher Beziehung zu einer Vielzahl von Geschäftspartnern, die durch die Durchsicht mittelbar ebenfalls betroffen sind.

Das Amtsgericht Kiel hat sich dieser Rechtsauffassung in seinem Beschluss vom 10. Mai 2021 ausdrücklich in vollem Umfang angeschlossen. Das erhebliche Datenvolumen und die Betroffenheit der Vielzahl von Geschäftspartnern spreche im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung für das Anwesenheitsrecht.

Gegen diesen Beschluss hatte die Staatsanwaltschaft Beschwerde erhoben, der das Amtsgericht nicht abgeholfen hat. Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, ein Anwesenheitsrecht könne durch eine Analogie nicht begründet werden, weil das Anwesenheitsrecht im alten § 110 Abs. 3 StPO abgeschafft worden sei. Die streitgegenständliche Datensicherung habe zudem ein normales Ausmaß, wie es bei Ermittlungen in Unternehmen häufig vorkomme.

Das Landgericht Kiel ist dem im Beschluss vom 18. Juni 2021 nicht gefolgt. Vielmehr teilt es die Rechtsauffassung der Verteidigung und hält ein Anwesenheitsrecht aus Verhältnismäßigkeitsgründen für geboten. Auch für das Landgericht spielte der Umfang des durchzusehenden Datenbestands sowie die Anzahl der Drittbetroffenen eine entscheidende Rolle. Es hat zudem herausgestellt, dass „gewisse zeitliche Einschränkungen und organisatorische Maßnahmen im Rahmen der Sichtung aufgrund der Hinzuziehung des Rechtsbeistands […] insoweit hinzunehmen“ seien.

Die Tragweite dieser Entscheidung zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass die Staatsanwaltschaft den seltenen formlosen Rechtsbehelf der Gegenvorstellung erhoben hat. Hier wurde wenig Neues vorgebracht und lediglich ergänzend ausgeführt, dass es sich bei dem betroffenen Unternehmen zwar nicht formal, aber doch quasi um einen Beschuldigten handele und dies in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachten sei. Dem hat das Landgericht einen Riegel vorgeschoben und auch die Gegenvorstellung verworfen: „Der Verdacht, dass Straftaten zu Gunsten des Betroffenen begangen worden sind, macht ihn nicht zum Beschuldigten.“

Die Entscheidung ist an die einschlägigen Fachzeitschriften NStZ, StV und StraFo übersandt worden und wurde mittlerweile auch veröffentlicht (u.a. bei Beck LSK 2021, 18281 und NZWiSt 2021, 408).

Hier finden Sie eine erste Besprechung durch die Kollegin Kienzerle im Fachdienst-Strafrecht aus dem Haus Beck und hier eine Besprechung aus dem Kreis der beteiligten Ermittlungsbehörde mit Verweis auf den vorliegenden Blogeintrag.