Im Prozess vor dem Landgericht Itzehoe gegen eine vormalige Schreibkraft im Konzentrationslager Stutthof hat die Verteidigung am heutigen Hauptverhandlungstag (21. November 2022) ein Ablehnungsgesuch gegen den historischen Sachverständigen verlesen.
In diesem möglicherweise letzten Prozess zur strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen verteidigt unser Partner Wolf Molkentin gemeinsam mit dem Kollegen Niklas Weber (einen früheren Beitrag mit Verweisen auf weitere Blogbeiträge finden Sie hier). Nach einer mehr als einjährigen Beweisaufnahme, zuletzt durch Inaugenscheinnahme der Örtlichkeiten durch einen Teil der Kammer, nähert sich das Verfahren nun seinem Abschluss.
Aus Sicht des Gerichts steht nur noch die Entscheidung über das heute gestellte Ablehnungsgesuch gegen den historischen Sachverständigen aus, dann sollen die Plädoyers beginnen (zunächst durch die Staatsanwaltschaft, dann die Nebenklägerverteter:innen und abschließend die Verteidigung).
Das heute angebrachte Ablehnungsgesuch stützt sich darauf, dass die Angeklagte befürchtet und auch befürchten darf, dass der Sachverständige seinem Auftrag nicht mit der von ihm geforderten Unbefangenheit und Unparteilichkeit nachgegangen ist. In der vergangenen Woche hatte der Vorsitzende die Verlesung eines hierfür aussagekräftigen Telefonvermerks abgelehnt und auf die Möglichkeit der Anbringung eines Ablehnungsgesuchs verwiesen.
Der Sachverständige hatte über eine Vielzahl von Hauptverhandlungstagen, an denen er sein Gutachten erstattet hatte, einen aus Sicht der Verteidigung nicht angemessenen Verfolgungseifer an den Tag gelegt, indem er etwa aus seiner Sicht Belastendes hervorgehoben, Entlastendes aber übergangen hatte. Am Ende seiner Vernehmung hatte er nicht erklären können oder wollen, wie er bei der Auswertung der äußerst umfangreichen Akte vorgegangen war.
Das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen knüpft allerdings an einen früheren Zeitpunkt an, der sich unmittelbar aus den Akten ergibt: Der Sachverständige war von der Staatsanwaltschaft damit beauftragt worden, noch bestehende Lücken in der Beweisführung zu schließen, und hatte dazu weitreichende Aussagen gemacht. Dennoch erfolgte die Anklageerhebung, bevor er sein schriftliches Vorab-Gutachten fertiggestellt hatte, unter Bezugnahme auf die telefonischen Ankündigungen.
In der Hauptverhandlung hat der Sachverständige diese Ankündigungen in weiten Teilen nicht einlösen können und ist offenbar bemüht gewesen, dafür Ersatz zu finden, statt seine begrenzten Recherche-Ergebnisse bezüglich einer persönlichen Verantwortung der Angeklagten offen und differenziert als solche zu präsentieren.
Das Ablehnungsgesuch in anonymisierter Form finden Sie hier.
Update 22. November 2022: Das Gericht hat das Ablehnungsgesuch bereits am Folgetag zurückgewiesen, ohne zuvor wie beantragt die Erklärung des Sachverständigen einzuholen. Einen Rechtsbehelf dagegen hat die Verteidigung nicht. Sollte es zu einem Revisionsverfahren kommen, würde der BGH auch überprüfen müssen, ob die Verwerfung des Ablehnungsgesuchs zu recht erfolgt ist.
Inaugenscheinnahme 4. November 2022