Am Amtsgericht Kiel ist diese Woche ein gegen einen Paketzusteller geführtes Strafverfahren wegen angeblichen gewerbsmäßigen Diebstahls nach drei langen Hauptverhandlungstagen zu Ende gegangen.

Aus dem Strafverteidiger-Alltag hatte sich dieses Verfahren wegen der notwendigen Hinzuziehung einer Sachverständigen für ein anthropologisches Identitätsgutachten abgehoben. Es gab nämlich Probleme bei der Bewertung von Foto-Aufnahmen aus einer Videoaufzeichnung des Paketsortierzentrums. Diese zeigten aus Sicht der Staatsanwaltschaft den Täter bei seinem Werk. Fraglich war jedoch, ob es sich um den von unserem Kollegen Rechtsanwalt Dr. Buchholz verteidigten Angeklagten handelte.

An den ersten beiden Hauptverhandlungstagen wurde die für die Auswertung der umfangreichen Videoüberwachung zuständige Mitarbeiterin des Paketsortierzentrum, die auch den angeblichen Diebstahl zur Anzeige gebracht hatte, insgesamt über sechs Stunden lang befragt. Auch die genannten Foto-Abzüge wurden dabei in Augenschein genommen. Gericht und Staatsanwaltschaft waren trotz schlechter Bildqualität und  unsicheren Beschreibungen der Zeugin im Ergebnis von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Eine weitere Beweisaufnahme wurde nicht für erforderlich gehalten.

Nach Ankündigung eines entsprechenden Hilfsbeweisantrages unseres Kollegen Buchholz wurde dann aber am dritten Hauptverhandlungstag eine anthropologische Sachverständige vernommen. Sie erklärte, eine Identifizierung unseres Mandanten anhand der Bilder sei weder sicher noch könne auf diese Weise die Identität ausgeschlossen werden. Es sei allerdings aus ihrer Sicht „wahrscheinlich“, dass der Angeklagte die abgebildete Person sei. Diese  Mutmaßung begründete sie vorrangig mit einer „gerade verlaufenden Bartkontur“. Rechtsanwalt Buchholz wies darauf hin, dass dieses nicht eben seltene Merkmal grundsätzlich keinen maßgeblichen Erkenntnisgewinn vermitteln könne. Die Sachverständige blieb jedoch (auch nach Hinweis auf wissenschaftliche Maßstäbe wie etwa metrische Abmessungen oder statistische Häufigkeiten sowie die Anforderungen des BGH an derartige Gutachten) bei ihrer Einschätzung.

Nun war aber auch für Staatsanwaltschaft und Gericht die unzureichende Beweissituation deutlich geworden. Das Verfahren wurde mit einer Einstellung abgeschlossen. Die weitere Aufklärung, etwa durch eine andere Sachverständige mit weitergehenden Kompetenzen auf dem Gebiet der anthropologischen Identitätsgutachten, wurde von allen Prozessbeteiligten für nicht mehr verhältnismäßig gehalten.

Die Möglichkeiten der Strafverteidigung gegen nicht wirklich wissenschaftlich arbeitende anthropologische Sachverständige sind unbefriedigend, zumal auch das o.a. Urteil des BGH die Tatgerichte nicht hinreichend in die Pflicht nimmt. Zu aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsgutachten hat der BGH 1999 endlich ein Machtwort gesprochen und angemessene Mindeststandards für die Rechtsanwender bei Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafverteidigung aufgestellt. Es bleibt zu hoffen, dass Entsprechendes auch bei anthropologischen Identitätsgutachten geschieht.