Ein feines Detail entscheidet über Freiheit oder Haftbefehl und auch darüber, ob eine monatelange Hauptverhandlung womöglich wiederholt werden muss. In einem sog. Sky-ECC/Encro-Chat-Verfahren verteidigt unser Kollege Schaar zusammen mit dem Kieler Kollegen Fülscher einen Angeklagten ausländischer Herkunft. Dieser befand sich über mehr als eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Nach über 30 Verhandlungstagen, in denen zu wenig geschah, gab das Oberlandesgericht einer Beschwerde seiner Verteidiger statt. Der Haftbefehl wurde durch das Oberlandesgericht aufgehoben und der Mandant in Freiheit entlassen. Diese nutzt er für Vieles. Die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin, der am 30.12.24 stattfand, gehörte nicht dazu. Nun stellte sich für das Gericht die Frage nach dem weiteren Vorgehen. Und die war gar nicht so leicht zu beantworten.

Grundsätzlich gilt im deutschen Strafprozess, dass eine Hauptverhandlung ohne den Angeklagten nicht stattfindet. § 230 Abs. 1 StPO bestimmt: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.“ Wie so oft im Recht gibt es zu dieser Regel allerdings auch Ausnahmen: Eine davon war die, von der das Gericht Gebrauch machte: § 231 Abs. 2 StPO bestimmt: „Entfernt der Angeklagte sich […] oder bleibt er bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung aus, so kann diese in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden, wenn er über die Anklage schon vernommen war“. Voraussetzung für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung ist aber, dass der Angeklagte „in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass die Verhandlung in diesen Fällen in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden kann“. Nun bestand folgendes Problem: Zu dem Termin am 30. Dezember 2024 war der Angeklagte entsprechend geladen worden, allerdings nur in deutscher Sprache. Eine Übersetzung in seine Muttersprache war unterblieben. Das Landgericht meinte, dass auch ohne die Übersetzung eine ordnungsgemäße Ladung vorlag und es zum Weiterverhandeln berechtigt war. Eine weitreichende Entscheidung, die aber als dem Urteil vorausgehende nicht isoliert anfechtbar ist (§ 305 S. 1 StPO).

Das Gericht hat auch noch etwas Weiteres entschieden, nämlich den Angeklagten zum Termin vorzuführen. „Vorführung“ (nach § 230 Abs. 2 StPO) bedeutet die Anordnung der Freiheitsentziehung vom Zeitpunkt des Aufgreifens (mindestens) bis zum Beginn der Hauptverhandlung. Das hätte also eine erneute Verhaftung und Haft unseres Mandanten bedeutet. Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist, dass das Ausbleiben des Angeklagten „nicht genügend entschuldigt“  ist (§ 230 Abs. 2 StPO). Auch in dieser Frage kam es also darauf an, ob eine ordnungsgemäße Ladung vorlag. Das Landgericht begründete seine Auffassung, der Angeklagte würde seine Ladung in der deutschen Sprache verstehen, u.a. damit, dass er sich während der Hauptverhandlung nur phasenweise des anwesenden Dolmetschers bediente. Der Angeklagte sei zwar Ausländer, aber nach den Eindrücken der Kammer ausreichend sprachkundig, um den einfachen Ladungstext mit seinen Belehrungen zu begreifen. Unser Kollege Schaar und sein Mitverteidiger sahen das anders und haben gegen den Vorführbeschluss Gegenvorstellung und Beschwerde erhoben. Mit der Beschwerde rügten sie die fehlende ordnungsgemäße Ladung. Das Ausbleiben des Angeklagten sei wegen der fehlenden Übersetzung genügend entschuldigt, so dass die Voraussetzungen für eine Vorführung nicht nicht vorgelegen hätten.

Rechtsanwalt Martin Schaar

Rechtsanwalt Dr. Martin Schaar (Foto Pepe Lange)

Das Oberlandesgericht hat unseren Kollegen nun in einer sorgfältig begründeten Entscheidung (OLG Schleswig – Beschluss vom 20. Januar 2025 – Az: Ws 2/25) Recht gegeben. Die Wertung der Strafkammer stünde im Widerspruch dazu, dass die Kammer während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung einen Dolmetscher hinzuzog und auch den Haftbefehl hatte übersetzen lassen. Dieser Aufwand wäre für jemanden, der der deutschen Sprache mächtig ist, weder nach den §§ 185 ff. GVG noch der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren erforderlich gewesen. Damit habe die Kammer deutlich gemacht, dass sie die Übersetzung zur Wahrung der Rechte des Angeklagten für notwendig hielt. Dann lägen aber eben die Voraussetzungen für den Erlass eines Vorführhaftbefehls nicht vor.

Das bedeutet: 1. Unser Mandant bleibt auf freiem Fuß. 2. Die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne ihn steht unter dem Damoklesschwert, dass der Bundesgerichtshof (als Revisionsgericht) am Ende die Rechtslage so bewerten könnte wie unsere Kollegen und das OLG. Dann wären die Voraussetzungen für ein Verhandeln ohne unseren Mandanten nicht gegeben, ein Revisionsgrund läge vor. Wie es also weitergeht, ist im Moment noch offen …